Rennstrategie: Rasantes Spiel mit vielen Unbekannten

Porsche LMP Team - Im Fokus

Am 17./18. Juni 2017 tritt Porsche mit dem 919 Hybrid zum vierten Mal beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans an. 2015 und 2016 hat die Mannschaft den Klassiker gewonnen. Um zweimal rund um die Uhr die richtigen Entscheidungen treffen zu können, benötigen die Rennstrategen im Porsche Motorsport LMP Team maximale Kontrolle – nicht nur über die beiden hochkomplexen Prototypen, es müssen viele weitere Faktoren einkalkuliert werden.

Die handelnden Personen:

Teamchef Andreas Seidl ist Bayer von Geburt und Stratege aus Berufung. Zusammen mit den Renningenieuren – Chief Race Engineer Stephen Mitas (AU) und den Fahrzeug-Renningenieuren Jeromy Moore (AU, Startnummer 1) und Kyle Wilson-Clarke (GB, Startnummer 2) – plant Seidl vor dem Rennen wie ein Schachspieler das optimale Vorgehen in zahllosen Wenn-dann-Szenarien. Nach der Eröffnung wird die Partie allerdings reaktiv. Es kommt auf die situativ richtige Entscheidung an.

Faktor 1: Der Tankstopp

Der erste limitierende Parameter für die Rennplanung ist die Reichweite zwischen den Tankstopps. Weil in der WEC die maximalen Verbrauchswerte für den Kraftstoff und die elektrische Energie pro Runde vorgeschrieben sind, ist bekannt, wann spätestens getankt werden muss. Das wissen die Strategen auch für die Fahrzeuge der Konkurrenz. Auf dem 13,629 Kilometer langen Kurs in Le Mans kam der Porsche 919 Hybrid 2016 mit einer Tankfüllung von 62,5 Litern 13 Runden weit.

Nun wird es bei dem 24-Stunden-Rennen nicht so sein, dass die zurückgelegte Distanz am Ende durch genau diese Anzahl Runden teilbar ist. Ziel ist aber, dass das Auto quasi mit dem letzten Tropfen ins Ziel fährt. Denn je weniger Sprit im Tank ist, desto leichter und damit schneller ist es. Es ergibt sich also immer irgendwann ein Tankstopp, bei dem weniger als die volle Ladung fließt. Wann dieser am geschicktesten stattfindet, will gut überlegt sein. Wenn ein Rennen ohne Zwischenfälle verläuft, hebt man sich diesen kurzen Tankstopp bis zum Schluss auf. Bei Wetterumschwüngen oder Neutralisationsphasen kann es aber zeitsparend sein, ihn vorzuziehen und etwa beim Wechsel auf Regenreifen zu erledigen. Die Entscheidung fällt binnen Sekunden. Dabei hilft ein Simulationsprogramm, das die Strategen permanent mit Informationen füttern. Es sind Daten der eigenen Autos, der Konkurrenzbeobachtung und eines Meteorologen.

Faktor 2: Der Reifenwechsel

Der zweite Grundparameter für die Rennstrategie ist die Leistungskurve der Reifen, dabei kommt auch die Expertise der Michelin-Ingenieure ins Spiel. Je verschlissener der Reifen, desto schlechter die Rundenzeit. Diese Verschlechterung muss ins Verhältnis gesetzt werden zum Zeitverlust durch einen Reifenwechsel an der Box. Der Reifenabbau geschieht nicht immer linear. Manchmal durchlebt der Gummi nach wenigen Runden ein Tief, erholt sich aber wieder. Parallel wird das Auto mit jeder Runde leichter – auch das kann lebensverlängernd für den Pneu wirken. Andreas Seidl nennt Zahlen: „2016 in Le Mans war unsere längste Distanz mit einem Satz Reifen 53 Runden. Das heißt: Wir haben drei Mal nachgetankt, ohne die Reifen zu wechseln. Von ihrer besten bis zur schlechtesten Performance haben die Reifen – kraftstoffbereinigt – rund 1,4 Sekunden pro Runde verloren. Der Gewichtsunterschied von 44 Kilo zwischen vollem und leeren Tank macht etwa zwei Sekunden pro Runde aus.“

Das Tempo auf der Strecke und die Dauer der Standzeiten sind entscheidend, um in 24 Stunden am weitesten zu fahren. 30 Mal betankte das Team 2016 das Siegerauto in Le Mans. Inklusive An- und Abfahrt dauerte der schnellste Tankstopp 65,2 Sekunden und der kürzeste Boxenstopp inklusive Fahrer- und Reifenwechsel 1:22,5 Minuten. Die Fahrer müssen stets so lange durchhalten wie die Reifen es zulassen. Ein Stopp eigens zur Fahrerablösung wäre ein Zeitverlust. Aber wie lang hält ein Fahrer durch, ohne langsamer zu werden?

Faktor 3: Der Rennfahrer

„Alle unsere Fahrer sind topfitte Vollprofis und können einen Vierfach-Stint in der Nacht leisten“, unterstreicht Seidl. „Aber wir müssen auch die Fahrzeiten im Blick behalten.“ Das Reglement schreibt eine minimale und eine maximale Einsatzzeit pro Fahrer vor. In Le Mans muss jeder Pilot mindestens sechs Stunden ans Steuer, darf aber nicht mehr als vier Stunden innerhalb von sechs Stunden fahren und über die Gesamtdistanz höchstens 14 Stunden. Normalerweise ist das kein Problem. Was aber, wenn ein Fahrer sich den Magen verdirbt? Wenn-dann-Szenarien, die rennentscheidend sein können. Seidl: „Wir versuchen, den Fahrern optimale Ruhezeiten zu geben und uns trotzdem bis zum Schluss möglichst viel Flexibilität zu erhalten.“

Teamchef, Renningenieure und Fahrer besprechen, wer wann am Steuer sitzt. Da ist die oft kampfbetonte Startphase, in der man einen kühlen Kopf bewahren muss. Es gibt lange Einsätze in der Nacht, und es gibt die ehrenvolle Aufgabe, ins Ziel zu fahren. Seidl: „Wir versuchen, jeden optimal einzusetzen und fair zu sein, denn auch die Stimmung im Team hat Einfluss auf die Performance.“

Faktor 4: Der Schadensfall

Welche Geschichte auch immer das Rennen erzählt, verwirft, wendet oder wieder aufgreift: Die Simulationssoftware hilft bei der Deutung. Das Team kann zu jeder Zeit ablesen, wie es bei normalem weiteren Rennverlauf abschneiden wird und erhält per Computer auch wertvolle Tipps zum Umgang mit außerplanmäßigen Ereignissen. Zum Beispiel, ob es sinnvoll ist, einen Boxenstopp vorzuziehen, falls es eine Neutralisationsphase (Full Course Yellow oder Einsatz des Safety Cars) gibt. Auch die strategischen Folgen eines möglichen Reparaturstopps berechnet das Programm. Wenn ein Auto Feindkontakt hatte, werden per Telemetrie sofort die Reifendrücke und Aerodynamik-Daten überprüft, der Fahrer gibt Feedback per Funk. Aber den Schaden anschauen, das kann weder er noch können es die Renningenieure an der Boxenmauer, wenn das Auto mit über 200 km/h vorbeirauscht. Dies geschieht auf Monitoren im sogenannten „Battle Room“ hinter den Kulissen. Manchmal bringt erst eine Wiederholung in Zeitlupe Aufschluss, ob das Auto zur Box muss.

Faktor 5: Die Boxenstopps

Für kurzfristig fällige Stopps ist die Boxencrew immer in Bereitschaft. Und sie ist schnell: 2016 verbrachte der Sieger-Porsche während der 24 Stunden von Le Mans inklusive An- und Abfahrt 38 Minuten und fünf Sekunden in der Boxengasse. Allein die Choreographie für die Stopps ist eine Wissenschaft. Denn anders als in der Formel 1 dürfen in der WEC nicht beliebig viele Mechaniker am Auto arbeiten, und weniger ist schwer. Das Reglement schreibt beispielsweise vor, dass nur zwei Mann tanken dürfen, dass das Auto dabei auf den Rädern stehen muss, dass erst nach dem Tanken Räder gewechselt werden dürfen, dass dafür nie mehr als vier Mechaniker und ein Schlagschrauber gleichzeitig am Auto sein dürfen und vieles mehr – Strafenkatalog inklusive. Das Team tüftelt aus, wann welcher Schritt und welcher Handgriff von wem zu tun ist. Es folgt das Trockentraining in der Werkstatt. Über 250 Stopps kommen allein dort pro Saison zusammen. Plus die vielen Übungseinheiten bei Testfahrten und an den Rennwochenenden. Eine Felge mit Reifen wiegt 19,9 Kilogramm. Die Mechaniker müssen stark, flink und extrem belastbar sein.

Benzinverbrauch, Reifenverschleiß, Wartungsfreundlichkeit und Service an der Box: Vieles lässt sich errechnen, einiges kann man erproben und manches trainieren. Niemals jedoch werden die Strategen alles in Wenn-dann-Szenarien erfassen, was in 24 Stunden passieren kann. Weltmeister und Vorjahressieger Neel Jani formuliert das so: „Le Mans kannst du nicht gewinnen. Le Mans lässt dich gewinnen.“

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