Die Technik des Semper Vivus

Zeitgeschichte

Der historische Semper Vivus war ein Einzelstück. Er diente Ferdinand Porsche zur praktischen Erprobung seiner Idee des seriellen Hybridantriebes. Deshalb sind vom ersten lauffähigen Vollhybridauto der Welt nur noch wenige Konstruktionszeichnungen, Unterlagen und Fotografien erhalten. Auf dieser Basis entstand der Nachbau des Semper Vivus.

Das Antriebskonzept des Semper Vivus verwirklichte erstmals ein Prinzip, das heute als Elektroauto mit Range Extender vor der Markteinführung steht. Der Antrieb erfolgt über Elektromotoren die primär von einer Batterie gespeist werden. Ist sie erschöpft, kann der Fahrer zwei Verbrennungsmotoren starten, die mit Generatoren gekoppelt sind und mit deren Hilfe elektrischen Strom zum Weiterfahren erzeugen.

Als Fahrmaschinen dienen in dem Hybrid-Prototyp zwei gelenkten Radnabenmotoren, die Ferdinand Porsche um 1896 erfunden hatte und sich patentieren ließ. Er misstraute Transmissionen und Getrieben jeder Art als Kraftfresser und Verschleißteile. Obwohl ihr Gehäuse aus Aluminiumguss besteht, wiegt jeder dieser Motoren rund 270 Kilogramm. Sie sind als sogenannte Außenläufermotoren konstruiert, bei dem der ruhende Stator in der Mitte liegt und vom Rotor umkreist wird. Gegen Erschütterungen unempfindliche Flachkollektoren und 82 einzelne Ankerspulen ermöglichen die angestrebte Scheibenform des Motors. Elektrisch funktioniert er als Hauptschlussmotor mit acht Polen, Rotor und Stator sind also in Reihe geschaltet. Dieses Prinzip hat den Vorteil, dass die Maschine bereits ab Stillstand ihr höchstes Drehmoment aufbringt – etwa 300 Newtonmeter.

Die schweren Vorderräder laufen auf Achsschenkeln, die ungefedert mit dem Rohrrahmen verbunden sind. Um wenigstens ein Mindestmaß an Fahrkomfort zu gewährleisten und nicht alle Stöße der damals sehr unebenen Fahrbahnen auf Radnabenmotoren und Insassen ungedämpft weiterzuleiten, tragen die Felgen Luftreifen der Größe 880 x 120 Millimeter. Gesteuert wird der Semper Vivus über eine Achsschenkellenkung, auf deren Spurstangen eine 6:1 übersetzte Schneckenradlenkung die Drehimpulse des Fahrers überträgt. Die Hinterräder, auf denen sich Vollgummireifen der Dimension 1150 x 100 breit machen, sitzen an den Enden einer Starrachse, die ebenfalls starr mit dem Rahmen verbunden ist.

Dieses Chassis besteht aus einem schlichten rechteckigen Rundrohrrahmen aus Stahl, der über Klemmstücke verbunden sind. Um Aufbau und Schwerpunkt einigermaßen niedrig zu halten, setzte Ferdinand Porsche die Batterie als schwerste Einzelkomponente nicht auf den Rahmen, sondern hing sie in einem Kasten an vier Spiralfedern in das Rechteck hinein. Die Batterie war ursprünglich ein 420 Kilogramm schwerer Blei-Säure-Akkumulator mit 44 Zellen, der unbelastet eine Spannung von 88 Volt und ein Ladungsspeichervermögen von 110 Amperestunden aufbringt. Im Nachbau des Semper Vivus nimmt aus Sicherheitsgründen eine Blei-Gel-Batterie mit vergleichbaren Werten, Abmessungen und ähnlichem Gewicht ihren Platz ein. Die Federung schützt nicht nur die empfindlichen Bleiplatten des Energiespeichers vor zerstörerischen Stößen; auf dem Batteriekasten, der von der Hinterachse bis unter den Vordersitz reicht, sind auch Sitze, Stromerzeuger und Antriebssteuerung montiert. Aus dem ungefederten Fahrerfußraum ragt die Lenksäule, daneben ist der Hebel der Fußbremse. Geschützt von der kniehohen Frontverkleidung informieren Volt- und Amperemeter den Fahrer über den Energiehaushalt, außen an der mit Sackleinen bespannten Holzverkleidung sind der Petroleumscheinwerfer und die beiden Wasserkühler angeschraubt.

Zum Meilenstein der Automobilgeschichte machen den Semper Vivus die beiden Einzylindermotoren hinter dem Fahrersitz, die keine mechanische Verbindung zu einer Antriebsachse haben, sondern über Generatoren ausschließlich der Stromerzeugung für die Radnabenmotoren dienen – das erstmals verwirklichte Prinzip des seriellen Hybridantriebes. Die beiden identischen Verbrennungsmotoren sind originalgetreue DeDion-Bouton-Viertakter mit jeweils 700 Kubikzentimetern Hubraum und etwa 3,5 PS Leistung bei 1200 Umdrehungen pro Minute. Ihr Kurbelgehäuse besteht aus Aluminium, die Kolben aus Grauguss. Die Kühlung der Motoren übernimmt ein Wassermantel, dessen Inhalt von einer Wasserpumpe umgewälzt wird. Sie saß beim Original auf einer Achse mit der Kurbelwelle und beförderte das Kühlmittel zu den Röhrenkühlern im Fahrzeugbug, während das Wasserreservoir unter dem hinteren Beifahrersitz untergebracht ist. Beim Nachbau des Semper Vivus werden für die zwei Kühlkreisläufe kleine Elektropumpen verwendet, die aus der Batterie gespeist werden.

Für die Gemischaufbereitung sorgen frühe Spritzdüsenvergaser, deren Luftstrom über einen kleinen, mit einem Drosselschieber im Vergaser verbundenen Handhebel geregelt werden kann. Das Gemisch strömt durch ein sogenanntes Schnüffelventil seitlich in den Brennraum, das durch den Unterdruck beim Ansaugen geöffnet wird und vor dem Verdichtungstakt federbelastet wieder schließt. Die Entflammung des komprimierten Gemischs übernimmt eine Unterbrecherzündung mit seitlich zwischen Ein- und Auslasskanal des ungeteilten Sackzylinders angeordneter Zündkerze. Die konservendosengroße Zündspule arbeitet mit zwölf Volt Spannung, die Anfang des 20. Jahrhunderts üblicherweise an der sechsten Zelle der Batterie abgegriffen wurde. Heute übernimmt ein moderner Spannungswandler, der von der Gel-Batterie gespeist wird, diese Aufgabe. Die DeDion-Bouton-Motoren sind nach dem Gegenstromprinzip konzipiert, deshalb verlassen die Abgase von einem Seitenventil gesteuert den Brennraum unterhalb von dem Schnüffelventil.

Der in Fahrtrichtung vordere Kurbelwellenstumpf jedes Verbrennungsmotors treibt über eine elastische Kupplungsscheibe jeweils den Rotor eines Nebenschluss-Generators an. Bei diesem Typ sind Erregerwicklung und Anker elektrisch parallel geschaltet. Weil nur ein Teil des Ankerstroms für die Feldwicklung benötigt wird, arbeitet ein Nebenschluss-Generator auch unter wechselnden Belastungen gleichmäßig. Zudem kann der so konzipierte Gleichstromgenerator sowohl zum Antrieb der Radnabenmotoren, als auch zum Laden der Batterie mit der nötigen Überspannung genutzt werden. Gleichzeitig mit Generatoren-Strom fahren und die Batterie laden kann der Semper Vivus allerdings nicht – das war mit der überlieferten Technik des Original-Hybridfahrzeuges nicht möglich. Der Nachbau ist deshalb so ausgelegt, dass das Laden der Batterie wegen der genau einzuhaltenden Ladespannung nur bei stehendem Fahrzeug möglich ist. Alternativ zum Generatorenstrom kommt dafür selbstverständlich auch Elektrizität aus dem Netz über ein Ladegerät in Frage. Vor 110 Jahren war dies auch aus den 110 Volt-Gleichstromnetzen der Städte mithilfe von Widerständen zur Spannungsanpassung ohne Weiteres möglich.

140 Kilogramm bringt jedes der beiden Stromerzeugerpakete auf die Waage, zusammen also etwa 280 Kilogramm. Jeder der Generatoren übernimmt gleichzeitig die Funktion des Anlassers für seinen Verbrennungsmotor. Der Anlasserschalter auf der Rückseite des Fahrersitzes wird wie alle anderen Bedienelemente für die beiden Kombiaggregate vom hinteren Sitz aus betätigt. Ist der Verbrennungsmotor angesprungen, wird der Generator auf Stromerzeugung umgeschaltet und erzeugt bei 1200 Umdrehungen pro Minute rund 20 Ampere bei 90 Volt Spannung. Weil beide Generatoren parallel geschaltet sind, liefert diese Stromversorgung also etwa 3,6 Kilowatt.

Das Fahren mit dem ersten seriellen Vollhybridauto der Welt gestaltet sich vollkommen anders als mit jedem heute üblichen Auto. Zur Regulierung der Geschwindigkeit gibt kein Gaspedal, sondern einen seitlichen Steuerhebel, der den sechsstufigen Controller schaltet – der hieß auch im Jahr 1900 schon so. Nach dem Herausziehen des Hauptschalters legt der Fahrer zum Anfahren die erste Stufe ein. Der Controller – eine Schaltwalze mit Kontakten für unterschiedliche Stromkreise – schaltet dann sowohl die Feld- als auch die Ankerwicklungen beider Radnabenmotoren in Reihe. Bis zu 80 Ampere fließen daraufhin durch die Radnabenmotoren und der Semper Vivus rollt sanft los. Für den Fall dass beispielsweise ein Hindernis das Anfahren verhindert, sorgt ein Vorwiderstand in diesem Stromkreis dafür, dass das System nicht überhitzt. Eine Steigung von rund sieben Prozent schafft der Hybridpionier aber allemal.

Diese erste Fahrstufe reicht bis etwa 10 km/h, dann ist die Stromaufnahme bis etwa 20 Ampere gesunken und der Fahrer muss zum weiter Beschleunigen schalten. In Stufe zwei verbindet der Controller die beiden Feldwicklungen weiterhin in Serienschaltung, die Anker werden jedoch parallel mit Strom versorgt. Das vom Ankerstrom erzeugte Drehmoment der Radnabenmotoren steigt infolge des geringeren Anker-Widerstandes wieder an führt dadurch zu der weiteren Erhöhung der Geschwindigkeit. Bei etwa 20 km/h ist schließlich die dritte Fahrstufe an der Reihe, diesmal schaltet der Controller sowohl Feld- als auch Ankerwicklungen der Radnabenmotoren parallel. Bei rund 35 Kilometer pro Stunde erreicht der Semper Vivus auf der Ebene schließlich seine Spitzengeschwindigkeit.

Will der Fahrer nicht Vollgas – oder besser gesagt, Vollstrom – fahren, schaltet er die Stromversorgung in der gewählten Fahrstufe einfach periodisch ein und aus indem er leicht auf das Bremspedal tritt, das mit einem Schalter kombiniert ist. Nutzt der Fahrer die Höchstgeschwindigkeit des Semper Vivus voll aus, bringt ihn eine Batterieladung mit dem 1,7 Tonnen schweren Semper Vivus auf ebenem Gelände etwa 50 Kilometer weit. Danach kann er die Generatoren starten und mit der Energie von 40 Litern Benzin aus dem Tank weiterfahren – Reichweite (noch) unbekannt.

Irgendwann muss der Fahrer aber auch mal bremsen. Dazu greift er zunächst wieder zum Seitenhebel für den Controller und schaltet auf die Verzögerungsstufe. Jetzt werden beide Motoren von der Stromversorgung getrennt und über einen achtohmigen Widerstand kurz geschlossen, der den aus der Trägheit der bewegten Fahrzeugmasse in umgekehrter Richtung erzeugten Strom in Wärme umsetzt. Ein Rückführen der Energie in die Batterie war mit der Technologie von 1900 noch nicht möglich. Reicht das Bremsmoment der Radnabenmotoren nicht aus, tritt der Fahrer zusätzlich fest aufs Fußpedal, das auf zwei Außenbandbremsen an den Hinterrädern wirkt. Der Nachbau des Semper Vivus verfügt zur Sicherheit darüber hinaus über eine Feststell-Außenbandbremse, die beim Original vermutlich nicht vorhanden war. Dazu kommt eine Rückrollsicherung in Form von Sperrklinken, die bei Bergfahrt ausgelöst werden und in eine Innenverzahnung in den Bremstrommeln greifen.

Die fünfte Schaltstellung des Controllers kehrt die Drehrichtung der Motoren um, der Semper Vivus fährt rückwärts. Stufe sechs ist in Wirklichkeit Stufe 0 – die Neutralstellung, in der die Benzinmotoren bei eingelegter Handbremse gestartet werden können.

Das Fahren mit dem Semper Vivus ist ein ebenso eindrucksvolles wie anstrengendes Erlebnis. Bei einer Vorderachslast von 1060 Kilogramm – hinten sind es 830 kg – wird das Lenken ohne Servounterstützung zur Schwerarbeit. Dafür genießt der Fahrer mehr als zwei Meter über der Straße von seinem Einzelsitz aus einen souveränen Überblick – die Oberkante der Fahrerrückenlehne als höchster Punkt ragt genau 1830 Millimeter über die Fahrbahn. Dabei belegt das erste serielle Hybridauto der Welt mit 2,64 Metern Länge, dem Achsabstand von 2260 mm sowie der Spur von 1370 Millimetern und 1540 Millimetern hinten gerade mal die Grundfläche eines heutigen Kleinwagens.

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